SECHSTES KAPITEL

DAS WESEN DES MENSCHEN ALS ENTWURF MÖGLICHER OFFENBARUNG

§ 1. Der Widerstreit zwischen "vita contemplativa" und "vita activa". Die notwendige Verzweiflung

Ist das Staunen der ursprünglichste Akt, der den Menschen in das Ganze seines Wesens bringt und ihm zugleich anfänglich sein letztes Ziel eröffnet, so erhellt hieraus das hinnehmende Schauen des unverfügbar sich Zeigenden und das diesem - es gewährenlassende - Raumgeben als die dem Menschen ursprünglich und letztlich gemäße Gestimmtheit und Bestimmung. So verstanden, ist hiermit der bleibende Vorrang der "vita contemplativa" vor allem verfügenden Tun behauptet: der Mensch fällt aus seinem Wesen, wenn er nicht "in seiner Wurzel" kontemplativ ist.

Aber: "Die geschaffene Welt ist dem Menschen nicht nur als Ort des Staunens, sondern seiner Gestaltung zugewiesen" (1). Mit dem Hervortreten der Differenz von Seiendem und Sein ist zugleich der Vorrang der menschlichen Vernunft und Freiheit vor den endlichen Dingen, der unendlichen Apriorität des Geistes vor der je begrenzt sich zeigenden Aposteriorität ans Licht gekommen. Die ursprüngliche Zusammengehörigkeit des Seienden mit seinem absoluten Grund ist ungebrochen allein im Geiste bewahrt, in der begegnenden Realität nur noch gebrochen offenbar: sie ist zur Idee von Realität geworden. Das dem Ich begegnende andere - "die Welt", die über "den Leib" des Menschen bis in sein tiefstes Selbst hineinreicht - ist ihm damit aus demselben Raum der Freiheit Gottes, die es ihm zuvor in "exemplarischer Identität" mit dem Absoluten gewährte, unter-stellt. Der Mensch hat den zurückgetretenen Grund der Dinge zu suchen, er hat die Welt mit ihrem absoluten Grund zusammenzuschließen. Das heißt aber, da nicht nur der erste Augenblick das Staunen -, sondern auch die Differenz aus dem Freiheitsraum Gottes hervorgeht, daß die "Suche nach dem Grund" nicht ein Zurückgehen in die Vergangenheit des Staunens sein darf - so als ob der "zweite Akt Gottes", die offenbar gewordene Kluft zwischen Seiendem und Sein, ungeschehen gemacht werden könnte -, sondern ein Schritt in die Zukunft zu sein hat. "Zusammenschließen mit dem absoluten Grund" bedeutet dann aber: "Fügen auf ein absolutes Ziel".

$228$

Dies ist dabei nicht einseitig von der bislang nur theoretischen Betrachtung der menschlichen Vollzüge her, sondern aus dem Ganzen menschlicher Freiheit zu verstehen. Da die Differenz zwischen "Sein und Seiend" über den Leib als Zwist in das Selbst des Menschen greift, ergibt sich die praktische Bedeutung des Gesagten aus dem Wesen der Freiheit. Ist nämlich die menschliche Freiheit unendlich bestimmt, dann ist die endliche Bestimmtheit des Selbst immer schon negiert, wo sie nur dem Geiste bewußt wird, d.h., praktisch gewendet, die vor sich selbst gekommene Freiheit weist die sie affizierende Begrenzung entschlossen ab und geht gegen sie vor. Mit dem Bewußtwerden der Differenz zwischen Sein und Seiend entfaltet die Freiheit also eine Aktivität, die in dem Maße eine Entschlossenheit zur Fügung der ganzen Welt auf ein absolutes Ende hin bedeutet, als der unlösbare Zusammenhang zwischen der Welt und dem Selbst des Menschen erkannt ist.

Der Wille zu dieser end-gültigen absoluten Fügung der Welt ist aber notwendig zugleich Verfügenwollen. Die Freiheit kann nicht anders die Begrenzung negieren, als indem sie die Grenzen als solche in den Blick und darum die Dinge als "clare et distincte" umgrenzte ins Verfügen nimmt.

Insofern dieses Verfügenwollen aber auf das absolute Ende und Ziel der Dinge (als Selbstvollendung des Menschen in seiner Welt) hinrückt, tritt der tiefste Widerspruch menschlicher Freiheit an den Tag: Das absolute Ziel des Ganzen ist dem Menschen nur aus seiner ursprünglichen Eröffnung im Staunen bewußt. Ihm gegenüber ist aber jedes Verfügenwollen die denkbar ungemäßeste Haltung.

Die Freiheit kann sich nicht selbst verfügend erfüllen, ohne ihr Verfügenwollen von ihrem Grunde her aufheben zu lassen. Kraft desselben Ursprungs, aus dem heraus sie die verfügende Bemächtigung alles endlich Begegnenden bejaht - und bejahen muß, will sie nicht ihre unendliche Bestimmung vergessen -, muß sie bejahen, daß ein absolutes Ende, auf das sie notwendig verfügend zugeht, ihr nur unverfügbar aus dem begegnenden anderen entgegenkommen kann.

Das in Freiheit angenommene Leben selbst ist also - ohne daß der Mensch schon je etwas von einem Tode gehört haben müßte und dadurch erst vom Tode wüßte - ein "Sein zum Tode": Von seinem Ursprung her ist dem $229$ Menschen ein Ziel entgegengehalten, auf das er nur im Widerspruch zu dessen Weise des Kommens zugehen kann. Je unbedingter er sein Ziel verfolgt, ohne den ermöglichenden Ursprung dieses Zieles zu vergessen, desto größer klafft der Widerspruch.

Das letzte Wort, das die Philosophie über den Menschen sagen kann, ist, daß er zur Verzweiflung bestimmt ist, wenn man unter Verzweiflung die Konsequenz einer Freiheit versteht, die nur so gerecht handeln kann, indem sie der Weise ihres Handelns notwendig widerspricht.

Bevor wir versuchen, das Wesen der Verzweiflung als den Entwurf einer möglichen Offenbarung positiv zu umreißen, soll durch den Hinweis auf einige mögliche Ausflüchte aus dieser dem Menschen notwendigen Verzweiflung gleichsam ein negativer Hintergrund hierfür skizziert werden.

ANMERKUNGEN

1 J. Ratzinger, Der Christ und die Welt von heute, in: Weltverständnis im Glauben 146.

2 Zum Begriff s. M. Heidegger, Sein und Zeit. Als notwendige Verzweiflung kann dieses "Sein zum Tode" (2): erst dann hervortreten, wenn die ursprüngliche Erweckung des Daseins nicht als "Geworfenheit", sondern durchaus positiv als Heilsbestimmung gefaßt werden muß. - Zum Begriff des der Natur des Menschen notwendig entsprechenden Todes, der nicht mit der Erfahrung des Todes als "der Sünde Sold" zusammenfällt, s. bes. K. Rahner, Zur Theologie des Todes; Der Mensch von heute und die Religion, in: Schriften VI, 28 f,; L. Boros, Mysterium mortis, Olten/Freiburg 1962.


Zur Fortsetzung

Zum Inhaltsverzeichnis