§ 2. Zur Abkünfigkeit des Urteils

Hat sich die Abkünftigkeit des Fragevollzugs darin erwiesen, daß die Frage, aus der verborgenen Anwesenheit des anderen entspringend, in ihrer notwendigen Bewegung auf die völlige Entbergung des anderen auf eine vorgängige absolute Offenbarkeit des anderen verweist, so ist ein Ähnliches nun auch für den Urtellsvollzug aufzuzeigen.

Wie es uns im vorigen Paragraphen nicht um eine zureichende Beschreibung und Klärung des ganzen Phänomens der Frage gehen konnte, so müssen wir uns auch hier darauf beschränken, in einigen Umrissen die Abkünftigkeit des Urteilens und damit die Notwendigkeit des genetischen Verstehens dieses Vollzuges aus einer ursprünglicheren Helle der Wahrheit herauszustellen.

2.1 Die wechselseitige Implikation von Frage und Urteil

Innerhalb der Auseinandersetzung mit E. Coreth hatten wir einige Sätze aus H.-G. Gadamers Werk: "Wahrheit und Methode" zitiert (1), aus denen hervorging, daß jede Fragestellung bestimmte Voraussetzungen impliziert. "Sie impliziert die ausdrückliche Fixierung der Voraussetzungen, die feststehen und von denen aus sich das Fragliche, das, was noch offen ist, zeigt" (2). Das heißt aber, daß die Frage selbst nicht ohne ein impliziertes Urteilen möglich ist.

Nun ist es aber offensichtlich nicht so, als ob die Frage schlechthin in dem Sinne vom Urteilsvollzug abhängig wäre, daß sich aus ihm ihre ganze Wahrheit ableiten ließe - und damit der Weg unserer Reduktion des Zweifels auf seinen Ursprung etwa bereits an sein Ende gekommen sei. Die Frage ist als Frage nicht nur mehr als die in ihr notwendig mitgesetzten Voraussetzungen, das in ihr implizierte Urteilen, vielmehr setzt das Urteil selbst in seiner Konstitution wiederum einen Fragevollzug voraus. Hierauf hat H.-G. Gadamer nachdrücklich hingewiesen (3). Sein Schüler H. J. Finkeldei hat die Vorrangigkeit der Frage gegenüber dem

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Urteil in einer eingehenden Auseinandersetzung mit E. Husserl herausgestellt (4).

Es ist die Frage, welche "den Sinn eines Urteils (begründet), das auf sie zugesprochen wird, weil in ihr schon der Sinn, die Hinsicht und der Logos des Urteils vorentschieden wird" (5). Sinn und Geltung hat ein Urteil nur aus dem ursprünglichen Verhältnis zum Sinn seiner Situation" (6). Das Urteil setzt als Bedingung seiner Möglichkeit die Offenheit einer Situation - die Frage, in der das Dasein steht - voraus und ist selbst ein Haltgewinnen des Daseins als Entscheid dieser Situation.

Ist es aber offensichtlich so, daß Frage wie Urteil jeweils einander implizieren und nicht das eine aus dem anderen abgeleitet werden kann, dann haben wir nach einem ursprünglicheren Wahrheitsvollzug zu suchen, auf den sich beide zurückführen lassen.

2.2 Die Offenbarkeit des anderen im Urteil nach J. Maréchal

Das bleibende Verdienst Maréchals dürfte vor allem darin liegen, gegenüber einer fast ausschließlich formalen Betrachtung des Urteils als Synthesis" bei Kant in streng transzendentalphilosophischer Methode auf den affirmativen Charakter des Urteils hingewiesen zu haben, durch den jedes Urteil sich als lebendige Beziehung des Subjekts auf die absolute Wahrheit darstellt.

Wenn von scholastischer Seite eingewendet wurde, daß aus der Urteilsanalyse selbst nicht schon die Beziehung auf ein Jenseits" des empirisch gegebenen Objekts liegendes ("au-delà du donné") absolutes Sein erhelle (7), so wird in diesem Einwand zwar gerade der entscheidende spekulative Ertrag des Maréchalschen Denkens übersehen (8). Allerdings legen diese Autoren den Finger auf die im Maréchalschen Denken kaum zu behebende Schwierigkeit, woher denn eigentlich das (Absolutes affirmierende) Urteil seine Legitimität beziehe (9). Wenn die gegebene "Sache" selbst die Rechtmäßigkeit der Affirmation begründet - und jede Setzung des Subjekts, die nicht von hierher ihr Recht bezieht, in der Sphäre bloßer Idealität verbleibt -, dann folgt zwar nicht notwendig, daß - aufgrund der Begrenztheit und Endlichkeit der empirischen Objekte - es keine Affirmation

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des absoluten Seins als notwendige Implikation des Urteils gebe. Aber Maréchal bleibt den Aufweis des einzigen Ausweges aus dem Dilemma schuldig, wie denn die Sache- selbst von ihr her die absolute Affirmation begründe.

Maréchal begreift wohl das Verhältnis des in der Affirmation auf das absolute Sein bezogenen Objekts zu diesem absoluten Sein als "subordination finale" (10), die Objekte als "fins partielles subordonnées à la fin dernière" (11). Es wird aber nicht klar, wie die Vernunft diese Unterordnung und Teilhabe der Objekte am absoluten Sein - der Grund, warum sie zu Recht in der Affirmation "Mit dem absoluten Sein verknüpft" werden (12) - erkennen (nicht nur: "setzen") kann. Daß die urteilende Vernunft notwendig als Dynamismus" auf die absolute Wahrheit begriffen werden muß, erhellt allein noch nichts für die Realität des begegnenden anderen, das ich im objektIvierenden Urteilsvollzug als an sich seiend setze.

Die - soweit ich das Werk Maréchals übersehe - positivsten Aussagen Maréchals hinsichtlich der Möglichkeit dieser Verknüpfung des begegnenden anderen mit dem absoluten Sein aufgrund der sich im anderen selbst zeigenden Offenbarkeit des Seins dürften sich in dem Aufsatz: "Le Dynamisme intellectuel dans la connaissance objective" (13) finden. Es ist bemerkenswert, daß Maréchal in dieser Arbeit - stärker als in dem engeren Bezug auf das Werk und die Terminologie Kants in seinem Hauptwerk "Le point de départ de la métaphysique" - besonders die praktische Bestimmtheit der affirmierenden Vernunft hervorhebt. Das begegnende andere wird dort als "wirkliche Antwort" auf das Verlangen der Vernunft bezeichnet:

"la forme étrangère est acccuillie dans l'intelligence comme une réponse effective au désir radical de posséder intuitivement l'être en soi, et par conséquent comme une anticipation irnparfaite de cette possession" (14).

"elle apaise partiellement l'exigence" (15).

Gerade insofern das begegnende andere als - zwar partielles, aber wirkliches - Ziel erfaßt ist, muß seine Realität zugestanden werden (16).

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Interessant gegenüber Formulierungen im Hauptwerk - wo es die setzende Vernunft ist, die das andere "projiziert" (17) - ist, daß hier der Verweis des begegnenden anderen auf das Sein als auf die an ihm selbst offenbare Transzendenz, als eine "Selbstprojektion nach vorn" bezeichnet wird:

Ja forme assimilée, point d'attache d'un désir ultérieur porté jusqu'à l'absolu, non seulement se pose comme limitée par une possibilité sans fin d'autres formes encore assimilables, mais surtout, dans son propre cadre formel, ouvre une perspective inépuisable d'approfondissements nouveaux de l'être meine qu'elle nous découvre sans le livrer jamais tout entier. Elle se projette ainsi en avant d'elle-même ..." (18)

Hier tut Maréchal einen wesentlichen Schritt auf eine zureichende Erhellung der Möglichkeitsbedingungen des Urteils zu. Während in "Point de départ . . ." offensichtlich die Auseinandersetzung mit Kant zu einer verkürzten Fragestellung führte - indem Maréchal die Affirmation des absoluten Seins dort als die Möglichkeitsbedingung der Objektivation" nachwies, zeigt er doch nicht auf, warum die auf den absoluten finis ultimus" gerichtete Vernunft sich gerade auf bestimmte Teilziele hin entwirft -, wird hier von ihm deutlicher das affirmierte Sein als der innere Grund des begegnenden anderen selbst hervorgehoben. Nur indem das Sein am und im begegnenden anderen als der Grund der Objektivation hervortritt, vermag die Analyse der Urteilssetzung auf das in ihr affirmierte Sein dem Schein bloßer Idealität zu entrinnen, von der her nichts für die Realgültigkeit des gesetzten Gegenübers auszumachen ist.

Nun ist allerdings die Erhellung der Legitimität absoluter Affirmation aus der Offenbarkeit des begegnenden anderen noch nicht mit der Behauptung geleistet, daß sich das begegnende andere "nach vorn", sprich. auf den unerschöpflichen Grund des Seins hin entwirft. Es ist damit zwar gut die Offenbarkeit des begegnenden anderen im Modus des Urteilsvollzuges gekennzeichnet, nicht aber dessen Möglichkeit aufgewiesen. Daß das andere selbst von sich her auf das absolute Sein weiterweist und darin die "ontologische Differenz" eröffnet, die den Dynamismus der Vernunft als ruheloses Getriebensein von Setzung zu Setzung auf ein letztgültiges Ziel hin begründet, ist nur aufgrund einer vorgängigen Identität des anderen mit dem absoluten Sein möglich.

Dieser Identität gegenüber erweist sich das Urteil als ein abgeleiteter Modus von Wahrheit. Erst indem die Deduktion der Möglichkeit des Urteils

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aus jenem ursprünglichen Vollzug von Wahrheit geleistet wird, vermag eine bei der Urteilsanalyse ansetzende Philosophie der Gefahr zu entrinnen, ein faktisches Urteil ohne die Frage nach seiner Legitimität absolut zu setzen -indem (realistisch) entweder das offenbare Faktum oder (idealistisch) die Setzung der Vernunft als solche zum Grund des Philosophierens erhoben wird.

Die Möglichkeit einer solchen genetischen Erhellung des Urteils aus der ursprünglichen Identität des begegnenden anderen mit dem absoluten Sein entfällt nun aber für das Maréchalsche Denken, weil nach Maréchal das sinnlich Gegebene als solches grundsätzlich nicht "capax infiniti", nicht im Horizont absoluten Seins erkennbar ist (19). Für Maréchal gilt das Axiom: "La matière .. éteint l'intelligibilité ..." (20) Bei der Frage: "abstraction ou intuition?" tritt er zwar entschieden für das erste Glied der Alternative und damit für die Notwendigkeit der sinnlichen Vermittlung metaphysischer Erkenntnis ein. "Intuition" als die einzige Alternative zu "abstraction" ist dabei aber von vornherein als eine geistige Schau im Sinn der Engelerkenntnis (nach Thomas v. A.) verstanden. Die Frage nach der Möglichkeit einer Intuition (als Bedingung der Möglichkeit jeglicher Abstraktion) des Absoluten in der Vermittlung durch die Sinne und im individuellen geschichtlich begegnenden Gegenüber stellt sich für Maréchal nicht. Das "Empirische", "Sinnlich Gegebene", "Materielle", "Individuelle" ist von vornherein aus dem Modus der Objektivität" begriffen, wie es in dem - mit Kant primär von der naturwissenschaftlichen Erkenntnis her verstandenen -Urteilsvollzug auftritt (21).

2.3 Das Urteil als "ursprünglichster Seinsvollzug" gemäß J. B. Lotz

Zum Erweise der Abkünftigkeit des Urteilsvollzugs wird es gut Sein, auf die ausdrückliche Verteidigung des Urteils als des ursprünglichsten Wahrheitsortes einzugehen, die J. B. Lotz - besonders gegen M. Heidegger und J. de Vries gerichtet - vorgetragen hat (22).

Blicken wir zunächst auf seine Argumentation gegenüber J. de Vries. De Vries hatte eingewendet, die Urteilssetzung könne deswegen nicht

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als der eigentliche Ort der Wahrheit angesehen werden, weil einerseits die Erkenntnis des Seins schon vor der prädikativen Setzung in der Evidenz der Sache vollendet, andererseits die Setzung als solche ohne diese sie begründende Evidenz ohne Wahrheit sei (23).

Lotz gibt zunächst zu, daß die Wahrheit der Setzung in der Sacheinsicht gründe, sagt dann aber, daß die Einsicht selbst wiederum erst in der Setzung zu ihrer Vollendung komme.

"Einsicht und Setzung durchdringen sich kraft ihres eigensten Wesen so innig, daß der Setzung ohne die Einsicht auch als solcher etwas abgeht und daß entsprechend der Einsicht ohne die Setzung auch als solcher etwas fehlt" (24).

Lotz versteht dabei unter der "vor-prädikativen" Einsicht eine Erfassung des einzelnen Seienden. die das Seiende noch nicht reflex von seinem Sein her erkannt hat:

"ein Erfassen, das allein beim Sein des einzelnen Seienden verweilt, ohne dieses vom allumfassenden Sein her zu sichten, verweilt gerade nicht beim Sein des einzelnen Seienden, sondern gleitet in dessen bloße Erscheinung ab" (25).

Erst in der Urteilssetzung komme die Erfassung des Seienden als Seienden in seiner Wahrheit vom Sein her zur Vollendung. Wo das Sehen der Sache voll ausgebildet ist, falle es mit der Wahrheit des Urteils zusammen.

Gegen die Aussage, daß erst im Erfassen des Seienden von seinem Grunde, dem Sein her sich Wahrheit ereignet -von der Frage, ob die Bestimmung der vorprädikativen Einsicht nach J. de Vries von Lotz richtig interpretiert ist, sehen wir hier ab -, ist nichts einzuwenden. Wenn die Urteilssetzung wirklich der Ort ist, an dem das Seiende erst voll im Lichte des Seins erfaßt wird, muß sie als der eigentliche Wahrheitsort anerkannt werden (26).

Nun ist allerdings einmal festzustellen, daß Lotz bei seiner Urteilsanalyse, wie wir oben sahen (27), gerade nicht auf das Hervorgehen der Setzung aus

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der sie begründenden Sacheinsicht reflektiert, sondern die Setzung als solche auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit hin untersucht. Das aus einer solchen Analyse der faktischen Urteilssetzung - ohne den Rückgang auf den sie legitimierenden Grund - gewonnene Sein" gibt aber keine Gewähr für die Wahrheit des Seienden - wie J. de Vries richtig eingewendet hat (28). Es bleibt möglicherweise in der Sphäre bloßer Idealität.

Zum anderen sieht Lotz in diesem Zusammenhang von wesentlichen Zügen der Urteilssetzung ab, die sie gerade als abkünftigen Modus von Wahrheit kennzeichnen. Lotz beschreibt hier in Wirklichkeit nicht die Wahrheit der Urteilssetzung, sondern Charaktere der diese begründenden ursprünglicheren Wahrheit . die allerdings nicht mit der "vor-prädikativen Einsicht", wie Lotz sie kennzeichnet, zusammenfällt. So tritt in der Auseinandersetzung mit de Vries völlig die Phänomenalität des Urteils als prädikativer Synthesis und als Wahrheitsbehauptung zurück. Prädikative Setzung heißt doch nicht nur vollendete Erfassung des Seienden im Lichte des Seins, sondern Setzung des Seins des Seienden in einer ganz bestimmten Hinsicht, in der der Urteilende den von ihm erfaßten Gehalt - das Prädikat - mit dem erfaßten Gegenstand - dem Subjekt des Satzes zusammenschließt. Hier darf nicht die affirmative Bewegung der Vernunft übersehen werden, die sich für das Sein der Sache in dieser bestimmten Hinsicht ein-"setzt" und sie gegen jeden Schein von Nichtigkeit entscheidet (29).

Nicht nur die sprachliche Herkunft des Wortes "Urteil" (jugement, iudicium) aus dem Bereich richterlicher Entscheidung, sondern auch die konkrete Erfahrung des Urteilens, dessen Zuspruch des Seins an die Sache im Ringen um den rechten Begriff geschieht, verweisen deutlich auf diesen Aspekt.

Ein solcher Entscheid gegen das Nichts der gesehenen Sache in einer bestimmten Hinsicht setzt aber als Grund seiner Möglichkeit eine ursprünglichere Offenbarkeit des Seins des Seienden (nicht nur des Seienden als bezüglich seines Wirklichseins unreflektierter Erscheinung) voraus. Das Urteil erweist sich dieser gegenüber als ein abkünftiger Wahrheitsvollzug. Denn indem es sich gegen den Schein des Nichtseins der Sache einsetzt, diesen als bloßen Schein hinstellt und als Nichts negiert, ist es als solcher Entscheid zugleich Zeugnis für die Wirklichkeit des Scheins. Als

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bloßes Faktum der Setzung gibt das Urteil aber keine Auskunft über die Legitimität seiner Entscheidung zwischen Sein und Schein. Ob seine Negierung des aufscheinenden Nichtseins der Sache auf Wahrheit beruht, kann sich nur im Rückgang auf die den Entscheid begründende ursprünglichere Offenbarkeit des Seins des Seienden zeigen. Diese Offenbarkeit des Seins ist aber nie durch eine bloße Analyse der Urteilssetzung als solcher zu gewinnen.

Von hierher wird auch einsichtig, daß J. B. Lotz das Urteilsproblem in seiner Auseinandersetzung mit M. Heidegger (30) um einen entscheidenden Zug verkürzt hat (31). Indem J. B. Lotz nämlich jede vor-prädikative Wahrheit von vornherein als eine Erfassung von Gehalten versteht, die diese noch nicht auf den erschließenden Horizont des Seins respektiert hat, tritt die eigentliche Frage nicht in den Blick, ob die prädikative Artikulation des Seins des Seienden ("etwas ist als etwas") wirklich die ursprünglichste Erfassung des Seins des Seienden ist. Erscheint die prädikative Setzung des Seins selbst als abkünftig, dann ist der Rückgang auf eine (ontologisch) frühere Helle des Seins zur Erhellung der Wahrheit des Urteils notwendig.

Einerseits sagt Lotz:

"Wer den Zusammenhang des Urteils mit seinen Vorstufen verflüchtigt oder gar verfehlt, liefert es einer rationalistischen Erstarrung aus, die seine Wahrheit zu klären nicht imstande ist" (32).

Andererseits soll die dem Urteil vorgängige, vor-prädikative Offenbarkeit nach Lotz nur die material umfassendere Fülle des Gehaltes sein (gegenüber der formalen Erfassung des Seins unter einem begrenzteren Gesichtspunkt im Urteil) (33) und die "genetische" Abhängigkeit des Urteils vom vor-prädikativen Erfassen nur eine Abhängigkeit "dem Werden der Erkenntnis" nach (34). Diese Aussagen sind schwerlich in Einklang zu bringen.

Wenn die genetische" Abkunft der prädikativen aus der vorprädikativen Wahrheit wirklich etwas mit der Klärung der Wahrheit, d. h. der Reflektiertheit des Seienden auf sein Sein zu tun hat, dann darf ich nicht auf der anderen Seite die vorprädikative Wahrheit als einen "unreflektierten" (35) und nur materialen Modus von Wahrheit bezeichnen. Wahrheit

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klärt sich nur aus der Helle ihrer selbst, nie aus der ihr vorgängigen unreflektierten Materialität.

Die Darlegungen von J. B. Lotz haben darin ihre Grenze, daß die vorprädikative" Offenbarkeit des Seienden nur als ein ontologisch gesehen abgeleiteter Modus von Wahrheit in den Blick tritt. Solange sich die Analyse des Urteils nur gegen einen solchen abgrenzt, kann die Abgeleitetheit des Urteils selbst nicht erkannt werden (36).

ANMERKUNGEN

1 S. o. S. 73 f.

2 Wahrheit und Methode 346.

3 Unter Berufung auf R. G. Collingwoods Logic of question and answer" und einen ersten Ansatz zu solcher Logik bei Croce (Wahrheit und Methode 352 mit A 1).

4 H. J. Finkeldei, Grund und Wesen des Fragens - Zur Priorität der Frage vor dem Urteil vgl. auch B. 1. F. Lonergan, Insight 275 f., 353.

5 H. J. Finkeldei, a.a.O. 43.

6 Vgl. ebd. 27.

7 Vgl. F. van Steenberghen, Dieu caché 89 f. (= Ein verborgener Gott 70 f.).

8 Vgl. hierzu die Wertschätzung, die G. Siewerth - trotz aller Kritik - Maréchal immer in Abhebung von der Neuscholastik" zuerteilt hat, s. bes. Thomismus 5, Die Abstraktion und das Sein 17, Schicksal 229, Grundfragen 41 A 1, 101.

9 Zur näheren Erörterung dieser Schwierigkeit s. o. Abschn. I Kap, 1 u. 2.

10 Cah. V 459.

11 Cah. V 451.

12 Vgl. ebd. 459: une affirmation rattachant Pobjet à l'absolu de l'être".

13 1927, in: Mél. Maréchal I, 75-101.

14 Ebd. 92.

15 Sc. des vouloir profond", ebd. 93 (wobei allerdings gesagt wird, daß die innere du Entsprechung der assimilierten Form" aufgrund ihrer diesem Verlangen ontologisch angemessenen Eigenschaften [nur] für einen observateur qui pénétrerait les essences" offenbar ist).

16 La fin, à la différence de la forme, ne tolŠre pas d'être pensée comme phénomŠne. Les fins - s'il y en a - sont nouménales. Nous avons ici les philosophes critiques pour alliés" (a. a. 0, 96).

17 Vgl. Cah. V 451: "la tendance qui les (sc. les fins partielles) projette hors du sujet comme autant de buts limités..."

18 Mél. Maréchal I 93.

19 Wir dürfen hier - für die Auseinandersetzung mit Vertretern der Maréchalschule voraussetzen, daß das begegnende andere als die Bedingung der Möglichkeit des Zu-sich-selbst-kommens des menschlichen Geistes stets ein sinnlich vermitteltes anderes ist.

20 Vgl. Au seuil de la métaphysique: abstraction ou intuition, in: Mél. Maréchal I 103-180, das Zitat ebd. 154

21Zur Frage "Abstraktion oder Intuition" s. a. S. 194 f.

22 Im Nachwort" zur 2. Aufl. von Das Urteil und das Sein". Ob J. B. Lotz mit dem Aufgreifen des Ansatzes bei der Frage (Seinsproblematik und Gottesbeweis, in: Gott in Welt 1, 144) von dieser seiner Auffassung abrückt, ist schwierig zu sagen. Wahrscheinlicher ist, daß Lotz, angeregt durch die Untersuchungen Coreths, bei der Frage als einem kritischeren Ausgangspunkt ansetzen wollte.

23 Wir verzichten hier auf eine eingehendere Darstellung der Auffassung von J. de Vries und die Angaben von Belegstellen in seiner Arbeit (Lotz bezieht sich auf dessen Aufsatz: Urteilsanalyse und Seinserkenntnis, in: Scholastik 28, 1953, 382-399) und fassen nur den Gedanken bei Lotz in den Blick.

24 Das Urteil und das Sein 201 f.

25 Ebd. 204.

26 Lotz verweist etwa auf Randerlebnisse" als Modi der Einsicht, in denen die Wahrheit sich noch nicht in der Urteilssetzung und also auch nicht als solche vollendet hat (a.a.O. 206).

27 S. 57 ff. 28 S. o. S. 61 Anm. 4.

28

29 Vgl. die Kennzeichnung des Urteils als engagemciit" und "témoignage" bei A. Marc (Démonstration . . ., in: Mél. Maréchal 11, 163 ff.). S. bes. die Urteilsanalyse bei G. Siewerth, die allerdings bezüglich der Erklärung des Scheins" einen anderen Weg geht, als wir ihn hier anstreben (Zur Auseinandersetzung mit Siewerths Urteilsanalyse s. u. Kap. V, 5 4).

30 Das Urteil und das Sein 181-200, vgl. Vom Sein zum Sinn 296 f.

31 Auch auf den Wahrheits- und Urteilsbegriff Heideggers können wir hier, wie schon auf den von J. de Vries, nicht eingehen.

32 Das Urteil und das Sein 187.

33 Vgl. ebd. 187 f.

34 Ebd. 190.

35 Vgl. ebd. 189 . Wir gebrauchen in diesem Zusammenhang den Begriff "Reflektieren" in dem Sinne, wie Lotz ihn im Anschluß an den Sprachgebrauch des sog. Deutschen

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Idealismus verwendet, nicht also in dem allgemeinen Sinn des Wortes wie sonst in dieser Arbeit.

36 Diese wenigen Bemerkungen zu der Urteilsanalyse bei Maréchal und Lotz können natürlich nicht mehr als einen Aphorismus" zur Diskussion um den Urteilsvollzug darstellen. Hier auch in nur annähernder Vollständigkeit etwa diejenigen Autoren zu nennen, die - innerhalb und außerhalb des scholastischen Philosophierens das Urteil als den eigentlichen und ursprünglichen Wahrheitsort ansehen, ist unmöglich. Aus den folgenden Kapiteln wird deutlicher werden, wo der genetische Ort" des Urteils innerhalb der Geistesbewegung unserer Auffassung nach anzusetzen ist. - Als besonders bedeutsam erscheinen mir in diesem Zusammenhang die letzten Veröffentlichungen von H. Krings (s. vor allein seine Transzendentale Logik" und den Aufsatz: "Wissen und Freiheit"), der - durchaus eigenständig gegenüber den Versuchen innerhalb der Neuscholastik wie auch denen im Gefolge M. Heideggers und der phänomenologischen Schule - sich in streng transzendentaler Methode auf die Erhellung ursprünglicher Wahrheit vortastet, dabei allerdings an dem Primat des Urteils festhält.


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