§ 2. Der Aufweis des "esse subsistens"

2.1 Der Gang der Untersuchung in "Das Urteil und das Sein"

Daß die Kraft der Argumentation in diesem Werk einzig auf der Einsicht in den Sachverhalt beruht, die dem auf seine Möglichkeitsbedingungen hin befragten Urteil zugrunde liegt, wird von Lotz ausdrücklich betont. So schreibt Lotz von der "blinden" Setzung:

Seite 61:

"Wenn eine derartige Setzung trotzdem geschieht, gerät das Denken auf Abwege oder in eine Verfallsform des Urteils hinein, wobei nur dessen äußere Form, nicht aber dessen inneres Wesen gewahrt wird, da das Urteil in seiner echten Verwirklichung Erkennen, ja die vollendete Gestalt des menschlichen Erkennens besagt. Nur eine Verfallsform liegt vor, weil eine Zuteilung des 'ist' oder ein 'enuntiatum' vollzogen wird, ohne daß feststeht, ob dem Sachverhalt auch wirklich Sein zukommt, weil also eine Entscheidung über das Sein des Sachverhaltes vorgenommen wird, ohne daß darüber entschieden ist" (1).

Oder von der Begründung des Urteils:

"Die absolute Urteils-Setzung von Endlichem als solchem ist einzig dann begründet, wenn dem Endlichen in sich selbst ein absoluter Bestand oder ein absolutes 'ist' zukommt" (2).

Schon hier erhebt sich die Frage, welche Bedeutung dann überhaupt einer Analyse der Urteilssetzung zukommt. Ist die Argumentation im Grunde nur von der Einsicht in den Sachverhalt getragen, dann gilt es doch einzig, auf die Sache selbst zu verweisen, wie sie sich vom Sein her als seiend zeigt. Was aus der "Setzung" darüber hinaus expliziert werden mag, hat keine Begründung in der Sache und vermag daher nicht zur Legitimation des Urteils beizutragen.

Betrachtet man hingegen die Urteilssetzung als solche ohne Rücksicht auf die sich zeigende Sache, so steht die Untersuchung stets auf einem zwiespältigen Fundament: Die Struktur der Setzung bleibt die gleiche, ob es sich um ein berechtigtes oder ein "blindes" Urteil handelt. Expliziert man also das Urteil auf seine Möglichkeitsbedingung, das "Sein" (3), so bleibt unausgemacht, ob es die Wirklichkeit des Seins ist, in der sich die Sache dem Geiste gezeigt hat, oder eine bloße Idee, ein Postulat, auf dessen Rechnung die irrende oder verdeckende Vernunft einen nicht bestehenden Sachverhalt unbedingt behauptet (4). Soll dieses "Sein", kraft

Seite 62:

dessen und auf welches hin der Mensch das unentwirrbare Knäuel von Irrtum und Lüge urteilend "setzt", ununterschieden bleiben von jenem, aus dem ihm die Helle der Wahrhelt zukommt? Welcher Moloch ergibt sich dann, wenn man von diesem "unbestimmten Sein" auf seinen Grund, das "esse subsistens" schließt?

Unter dieser Zwiespältigkeit stehen alle weiteren Schritte. Besonders deutlich wird dies z.B. dort, wo Lotz das "Sein-schlechthin" vom Sein des endlichen Subjekts abhebt.

Im Urteil wird das Sein als unbedingt oder absolut in bezug auf mein Setzen gesetzt: Mein Setzen spielt "keine für das Sein des Seienden konstitutive Rolle" (5).

"Das Für-mich bringt nicht von sich aus schon das An-sich, und zwar so wenig, daß bloßes Für-mich als Leugnung des An-sich mit Nicht-sein identisch ist ... Tatsächlich steht es jedoch, nach seiner konkreten Erfülltheit genommen, in einem wesenhaften Bezug zum An-sich, und zwar derart, daß es nur insofern wahrhaft ein Für-mich ist, als es ein An-sich enthält und dieses an sich schon Seiende nun auch für mich ins Sein bringt, daß es aber zum bloßen Schein eines Für-mich herabsinkt, sobald es vom Ansich gelöst wird, weil es dann bloß scheinbar etwas, in Wirklichkeit nichts für mich seiend macht ... Entsprechend besagt Gesetztsein im Raume meines Seins einzig dann wahrhaft eine Setzung und ein Sein (und nicht letztlich keine Setzung und kein Sein), wenn es das im Raume des schlechthinnigen Seins immer schon Gesetzte und Seiende nun auch im Raume meines Seins zur Setzung und zum Sein erhebt" (6).

Dazu macht Lotz die Anmerkung: "Dabei wird natürlich nicht bestritten, daß auch reine Phantasien und Gedankenkonstruktionen ein gewisses 'Sein' in mir besitzen und außerdem auch in einem entfernten Zusammenhang mit dem An-sich stehen" (7).

Hiermit ist nur noch einmal die ganze Schwierigkeit unterstrichen, die allein durch den Rückgang auf die sich zeigende Sache, nicht aber durch eine weitere transzendentale Untersuchung des in der Setzung behaupteten Seins gelöst werden kann.

Die im "Sein" belassene Zweideutigkeit bleibt dann auch bei dem Schritt vom Sein-schlechthin zum subsistierenden Sein, den Lotz von der Frage her entwickelt: "Warum geht das überendliche Sein nicht in dem endlichen Seienden unter" (8)?

Der Aufweis des "esse subsistens" - den Lotz auf drei Wegen unternimmt - beruht darauf, daß sich das Sein als der Grund des Seienden (und der Vernunft) gezeigt hat und daher seine Wirklichkeit nicht auf

Seite 63:

das Seiende (und das endliche Subjekt) angewiesen sein kann, was der Fall wäre, wenn das "unbestimmte Sein" - kraft dessen das Seiende als solches "gesetzt" ist - nicht ursprünglicher in einem subsistierenden Grunde wurzelte.

Wie ein solcher Aufweis von der Positivität des Seienden her, das in seiner "exemplarischen Identität" mit dem Sein zugleich die Differenz auf seinen Grund hin eröffnet, geführt werden kann, hat G. Siewerth im "Thomismus als Identitätssystem" dargelegt (9). Bei Lotz zögert man, diesen Schritt zum "subsistierenden Sein" mitzugehen, weil das Sein, wie es im Anspruch der setzenden Vernunft auftritt, ohne den Rückgang auf die sich zeigende Sache in der Unentschiedenheit zwischen Wirklichkeit und Schein verbleibt.

2.2 Die Beweise für das "esse subsistens" in "Metaphysica operationis humanae"

Schon in "Das Urteil und das Sein" fällt die eigentümliche Rolle auf, die J. B. Lotz der Washeit beim Aufweis des "esse subsistens" zuschreibt.

Was bedeuten die Feststellung, daß die Washeit sich "über dem Einzelnen als dessen Grund" halte (10), ihr "Hinaus über die Einzelheit" "als mitgeteiltes vom Sein" empfange (11), und weiter die Aussage: "Solange ... die Washeit dem Einzelnen innewohnt, verweilt sie bei etwas ihr Äußerlichem, ist sie ihrem eigensten Selbst entfremdet" (12), wenn Lotz die Washeit weder als platonische Idee verstehen will, noch im Sinne Hegels als ontologisch gedachte Vermittlung der Vernunft, ohne welche das Einzelne nicht ins Sein kommt?

In "Metaphysica operationis humanae" erscheint die Vermittlerrolle der Washeit noch verschärft. Von dem Beispiel: "Petrus est homo" ausgehend, kommt Lotz etwa zu folgenden Aussagen:

"Esse ... quidem potest esse homo et Petrus;... quare etiam esse ad hominem et Petrum contingenter se habet "... homo independenter a Petro homo est; similiter to esse independenter ab homine et Petro est to esse" (13).

Wird hier nicht - statt vom "actus essendi" - von einem nur logisch entworfenen Seinskonzept her gedacht, das man in gleicher Weise dem wirklichen Seienden wie einem Verstandesbegriff zusprechen kann? "Ist"

Seite 64:

das Sein "in gleicher Weise" unabhängig von "Mensch" und "Peter", wie es das Universale "Mensch" vom wirklich existierenden Menschen "ist", dann subsistiert es nicht - und man kann die Bedeutung des Gesagten innerhalb eines Aufweises für die Subsistenz des absoluten Seins nicht verstehen. Nimmt Lotz schließlich doch das "similiter" zurück (14), dann weiß man nicht mehr, welche Vermittlerrolle der Washeit in diesem Aufweis zukommen soll (15).

Der erste der beiden - "modo obiectivo" - entfalteten Beweise für das "esse subsistens" bewegt sich ganz in dem oben skizzierten Rahmen: "homo non dependet a Petro, et esse non dependet ab homine ... Ergo homo datur sine Petro, et esse datur sine homine" (16). Der zweite Beweis läßt zwar den vermittelnden Schritt über die Washeit aus, doch auch hier sind reales Wesen und logische Washeit wieder in gleicher Weise auf das Sein bezogen:

"Quia autem omnia individua et omnes quidditates mundi ad esse iam primo constitutum accedunt illudque ut tale supponunt, constituens primum necessario individua et quidditates praecedit" (17).

Er wäre nur dann einsichtig, wenn zuvor die begründende Kraft des das einzelne transzendierenden Seins evident geworden wäre. Hier - wie auch bei dem dann folgenden "subjektiven Modus" des Beweises (18), für den die "absolute Geltung" des Urteils vorausgesetzt ist, wo doch nur der Anspruch auf solche Geltung gesichert wurde (19) - bleibt aber das im Urteil affirmierte Sein und damit auch das notwendige An-sich-Sein des absoluten Grundes solcher Setzung in der Schwebe zwischen Wirklichkeit und Schein.

Auch an anderen Stellen, wo man in den Arbeiten von J. B. Lotz Aufweisen für die Existenz Gottes begegnet, wird die aufgezeigte Zwiespältigkeit nie ganz überwunden. Einerseits steht Lotz (im Gegensatz etwa zu G. Siewerth, dessen scharfe Kritik an Lotz von einem anderen philosophischen Ansatz her geführt wird und darum in vielem an der Intention Lotz' vorbeigeht) in der Tradition einer kritischen transzendentalen Methode, die die Frage nach gültiger Realität nur im Durchgang durch eine Reflexion auf Bewußtseinsgegebenheiten angeht; andererseits

Seite 65:

betont er doch immer wieder, daß der Aufweis von Realität nur im Blick auf das sich vom Sein her zeigende Seiende geschehen kann. Von der kritischen transzendentalen Methode her vermißt man einen letzten Ausweis der Gültigkeit des im subjektiven Vollzug gesetzten Seins (20); die Begründung des Seinsvollzugs in dem auf das Sein hin transparenten Seienden hingegen wird stets nur angedeutet, nicht wirklich entfaltet (wie etwa bei Siewerth).

Der gültige Aufweis der Existenz Gottes sowohl wie die Vermittlung dieser Einsicht über die sinnlich begegnende Realität sind nun unabdingbar für die uns hier leitende Frage nach der Möglichkeit von Offenbarung. Bevor wir von dieser Frage her noch einmal kurz auf das Gesagte zurückschauen, sind einige weitere Arbeiten von J. B. Lotz in den Blick zu nehmen, in denen er sich ausdrücklicher mit der Vermittlerrolle des endlich begegnenden Seienden befaßt hat.

ANMERKUNGEN

1 Urteil und Sein 201.

2 Ebd. 108, vgl. 179, 187 u. ö.

3 "... der innerste Möglichkeitsgrund aller Phasen der Urteils-Synthese liegt im Sein; die dem Setzen vorausliegenden Phasen sind nichts anderes als das Unterwegs des Seins zu sich selbst" (ebd. 66).

4 Vgl. hierzu E. Coreth: "Wenn sich auch in einer Analyse des Urteils - bzw. des Fragens, Wollens usw. - die Unbedingtheit eines vorgängigen Horizonts dieses Vollzugs aufzeigen läßt, so kann doch die Frage bestehen bleiben, ob es nur ein vermeinter Horizont des Seins schlechthin in seiner letzten Gültigkeit ist oder der wirkliche Horizont objektiv und absolut gültigen An-sich-seins; ob wir uns also in unserem Erkennen und Wollen doch wieder nur im Bereich einer Erscheinung-für-uns bewegen, wenn wir auch diese Erscheinung mit Notwendigkeit für das An-sich-sein halten, oder ob wir das An-sich-sein des Seienden selbst treffen ..." (Metaphysik als Aufgabe 54). J. de Vries, der Coreth zitiert, fährt dann selbst fort: Daß in jedem Urteil das Sein notwendig "gesetzt" wird, genügt also nicht, wenn nicht zugleich gezeigt wird, wie und wodurch der im Urteil gesetzte Gegenstand evident' ist und daher in seinem An-sich 'gesehen' wird" (Der Zugang zur Metaphysik 489).

5 Urteil und Sein 73.

6 Ebd. 73 f.

7 Ebd. 73 A 76.

8 Ebd. 89.

9 Kap. X 6, bes. 187 ff.; vgl. Schicksal 456 f.

10 Vgl. Urteil und Sein 91.

11 Vgl. ebd. 93.

12 Ebd. 91.

13 Metaphysica 103.

14 Ebd. 103 f., vgl. Ontologia 353.

15 Wie in einer wirklich ontologischen Betrachtungsweise über die vermittelnde Wesenheit auf den Seinsgrund zurückgegangen werden kann, zeigen etwa die Ausführungen G. Siewerths in: Das Sein als Gleichnis Gottes" (20 ff.).

16 Metaphysica 105.

17 Ebd. 106.

18 Metaphysica 107 f.

19 S. o. S. 59 f.

20 Vgl. etwa E. Coreth, Metaphysik als Aufgabe 51, 54; Metaphysik 83.


Zur Fortsetzung

Zum Inhaltsverzeichnis