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Joseph Maréchal stellt in seinem Hauptwerk "Le point de départ de la métaphysique" (1) die kritische Frage nach dem "Ausgangspunkt" des Philosophierens (2) und erweist sich damit - trotz seiner Verbundenheit mit der scholastischen Tradition - als "moderner" Denker (3). Hält der von ihm gewählte Ansatzpunkt "auch der härtesten Kritik" (4) stand?
E. Coreth glaubt, dies verneinen zu müssen. Maréchal gehe (mit anderen) bei der transzendentalphilosophischen Selbstbegründung der Metaphysik von der Analyse des Urteils aus. Dieses sei jedoch kein fragloser Anfang der Metaphysik.
"Es muß selbst noch danach befragt werden, ob und mit welchem Recht es als Anfang gesetzt werden kann. Die Frage nach dem Anfang geht ihm voraus. Überdies setzt jedes Urteil ein Wissen voraus, das im Urteil behauptet wird. Woher stammt dieses Wissen und mit welchem Recht wird
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es im Urteil als absolut gültig gesetzt? ... Wird aber nicht ein schon als wahr und gewiß erwiesenes Urteil an den Anfang gesetzt, sondern der allgemeine Anspruch auf unbedingte Geltung, der in jedem Urteil gesetzt wird, so bleibt die Frage, ob ich überhaupt urteilen kann und urteilen muß, mit welchem Recht ich den Anspruch auf unbedingte Geltung des Urteils setze" (5).
Coreth dürfte hier dem Maréchalschen Ansatz nicht ganz gerecht werden. Maréchal setzt kein auf seine Berechtigung hin unbefragtes Urteil an den Anfang. Er kommt einmal von der Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus zu dem Ergebnis, daß es keine Möglichkeit gibt, sich des Urteilens zu enthalten. So schreibt er schon in einem Thesenentwurf von 1914: "Le doute spéculatif ou l'abstention voulue de juger sont ou impliquent, bon gré mal gré, un jugement auquel on s'arrête" (6).
Bei der Entfaltung der transzendentalen Analyse im Zusammenhang der Kant-Kritik im fünften Band des Maréchalschen Hauptwerkes tritt die Sicherstellung des Urteils durch "Retorsion" (7) zwar in den Hintergrund. Wenn Maréchal aber vom Gegenstand als Bewußtseinsgegebenheit (objet phénoménal) ausgeht, so ist implizit doch immer eine Retorsion vollzogen: Daß sein Denken gegenstandsgerichtet ist, muß auch der ärgste Zweifler anerkennen. Darum ist das Objekt im bloß phänomenalen Sinn eine von allen Kritikern anerkannte Ausgangstatsache (8).
Erst über die Analyse des bewußtseinsimmanenten Gegenstandes gelangt Maréchal dann zum Urteil als dem eigentlichen Ausgangspunkt, insofern nämlich nur im Urteil der Gegenstand als solcher konstituiert ist (9).
Die Wahl des durch Retorsion sichergestellten phänomenalen Objekts zum Ausgangspunkt der kritischen Reflexion kennzeichnet den methodischen Zweifelsansatz in seiner typisch neuzeitlichen Fassung. Er impliziert den von Descartes (erstmalig zur absoluten und systematischen Wissenschaftsbegründung) vollzogenen Schritt zum universalen methodischen Zweifel und die (bei Descartes wohl schon zu findende, konsequent aber erst von Kant durchgeführte) Reduktion auf die bloße Bewußtseinsgegebenheit.
Maréchal - der selbst nicht an der metaphysischen Valenz der menschlichen Erkenntnis zweifelt (10) - glaubt zwar, daß es weder eines realen noch eines methodischen Zweifels bedürfe, um das bloß phänomenale Objekt - abgesehen von seiner ontologischen Valenz - zum Ausgangspunkt der kritischen Reflexion zu
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erheben (11). Was aber meint der "methodische Zweifel" - etwa bei Descartes - anderes, als den Ausgangspunkt so zu wählen, daß man zur kritischen Wissenschaftsbegründung von "natürlichen Gewißheiten" absieht (12)?
Über den (methodischen) Zweifel als (zumindest impliziten) Ausgangspunkt der transzendentalen Reflexion wird an späterer Stelle zu handeln sein (13). Hier gilt es nur, das Phänomen des Urteils so festzuhalten, wie es Gegenstand der Maréchalschen Untersuchungen ist: Die Rechtmäßigkeit des Urteils steht nicht zur Frage. Es kommt für die transzendentale Analyse nicht darauf an, ob eine Setzung richtig oder falsch, legitim oder illegitim sei. Nur daß der Mensch, weil er denkt, notwendig etwas als wahr setzt, ist von Belang.
1Chier I-V; im folgenden zitiert: Cah. I (usw.).
2 "La métaphysique, si elle est possible, a nécessairement pour point de départ une affirmation objective absolue: rencontrons-nous, dans nos contenus de conscience, une pareille affirmation, entourée de toutes les garanties réclamées par la critique la plus exigeante?" (Cah. I 11).
3 In neueren Zeiten erst ist das Bewußtsein entstanden, daß es eine Schwierigkeit sei, einen Anfang in der Philosophie zu finden, und der Grund dieser Schwierigkeit, so wie die Möglichkeit, sie zu lösen, ist vielfältig besprochen worden' (Hegel, Wissenschaft der Logik 1, 51).
4 Vgl. Anm. 2.
5 Metaphysik 83; vgl. Metaphysik als Aufgabe 51.
6 Jugement 'scolastique' concernant la racine de l'agnosticisme kantien, in: Mélanges Joseph Maréchal I (im folgenden abgek.: Mél. Maréchal 1) 284.
7 Zum Begriff Retorsion' s. u. Abschn. 2, Kap. 1, § 3, 1.
8 Vgl. Cah. V 86 f., 97, 501 f., 516 u. ö. - H. Holz kommt gegenüber dem Vorwurf Coreths zu einem ähnlichen Ergebnis (vgl. Transzendentalphilosophie 146).
9 Cah. V, livre II, sect. II, chap. 1 s. (bes. 128, 131).
10 Vgl. den Auszug aus einem Brief Maréchals an M. Blondel vom 28. 8. 1930, in: Mél. Maréchal I, 341.
11 "Partir de l'objet phénoménologique comme d'une donnée première de la Critique, est-ce professer un doute réel sur la valeur ontologique des objets? Pas nécessairement. Est-ce du moins professer un doute méthodique? Pas même. Il n'est pas nécessaire de prendre, devant une vérité, l'attitude subjective du doute méthodique pour indaguer sur la justification rationnelle de cette verité. A moins toutefois que l'on n'entende l'expression 'doute méthodique' dans un sens assez large" (Cah. V 517 A 1).
12 Etwas anderes ist es natürlich, wenn man zur Entfaltung einer transzendentalen Logik von der Realgültigkeit des Objektes absieht. Hier darf mit Recht gesagt werden: "Deswegen bleibt das Selbstsein des Seienden nicht zurück, verfällt auch nicht einer Reduktion oder Ausklammerung; es wird lediglich nicht als Selbstsein thematisiert, was Aufgabe der Ontologie wäre" (H. Krings, Transzendentale Logik 70). Bei Maréchal (und seinen Nachfolgern) geht es aber gerade um die Frage nach der Realgültigkeit des Gegenstandes. Wenn man dort also zwecks kritischer Geltungsbegründung die natürliche Gewißheit über das An-sich-sein des Gegenstandes auf sich beruhen läßt, wird diese Gewißheit "eingeklammert", methodisch von der Gültigkeit dieses Gewißheitsurteils abgesehen.
13 S. u. Abschn. 2, Kap. 1, bes. § 3.