"Sind wir, wie alte Leute, dabei, in Europa kulturell das Prinzip Hoffnung durch das Prinzip Erinnerung zu ersetzen? Flüchten wir vor den Erfahrungen der Stagnation ... in die Vergangenheit?" So fragt Hermann Lübbe. Und er gibt zur Antwort: "Meine These ist, daß den angedeuteten Phänomenen nicht ausbleibender Wandel der Dinge zugrunde liegt, vielmehr die Erfahrung der Grenzen unserer Fähigkeit, einen längst stattfindenden sozialen Wandel historisch beispiellosen Tempos individuell und institutionell zu verarbeiten. Genau das macht, individuell und institutionell, die 'Identitätsfindungsschwierigkeiten' aus, und genau diese Schwierigkeiten suchen wir zu kompensieren, indem wir durch Denkmalpfleger oder ähnliches uns Gelegenheit verschaffen, historisches Wiedererkennen zu erleben" (1).
Mir scheint, diese Beobachtung hat auch in Hinsicht auf die heutige Situation von Theologie und Glaube Gültigkeit. Mögen auch im einzelnen bitter notwendige Reformen zu zaghaft vorangetrieben oder vorzeitig abgeblockt werden. Aufs Ganze gesehen bestürzt doch eher die Vielzahl nur wenig koordinierter Reformversuche, die überall aus dem Boden schießen und Leben und Lehre der Kirchen zu einem Spielfeld machen, auf dem sich eine nicht mehr überschaubare Mannigfalt von immer neuen Einfällen und Eintagsmodellen tummeln kann.
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Wo über alles und jedes nur noch "offen gefragt" wird und schon der bloße Versuch einer klaren Antwort sich dem Argwohn aussetzt, den "gemeinschaftlichen Dialog' zu untergraben, da geschieht in Wirklichkeit aber gar kein Fragen mehr. Eine Frage, die es nicht gestattet, beantwortet zu werden, sondern aus Prinzip offen bleiben will, ist alles andere als Offenheit.
Solange sich das alles in die Schwebe bringende Problematisieren noch auf konkrete Gegenstände richtet, ist die Leere, zu der es führt, allerdings noch relativ leicht als sachfeindlich zu erkennen. Bei der Frage nach Gott hingegen war es schon immer schwer, Hohlheit von Frömmigkeit zu unterscheiden. Weil Gott als der alles Denken Übersteigende gilt, kann sich hier manches ungestraft als Behutsamkeit und Achtung vor dem "ganz Anderen" ausgeben, was in Wirklichkeit nur Trägheit der Vernunft und Geschicklichkeit ist, alles Absolute und radikal Beanspruchende soweit von sich wegzuschieben, daß man in Ruhe seinen eigenen Geschäften nachgehen kann.
Schon Hegel konnte feststellen: "das Beweisen religiöser Wahrheit als solches ist in der Denkweise der Zeit so sehr um allen Kredit gekommen, daß die Umnmöglichkeit solchen Beweisens bereits ein allgemeines Vorurteil ist, und noch mehr, daß es selbst für irreligiös gilt, solcher Erkenntnis Zutrauen zu schenken und auf ihrem Wege Überzeugung von Gott und seiner Natur oder auch nur von seinem Sein zu suchen" (2).
Hegel hatte es dabei nur mit dem Argwohn zu tun, den der Glaube vor dem Eindringen kalter Rationalität in den Bereich der Theologie empfand. Inzwischen ist "die Gottesfrage' über den Dialog mit den verschiedensten Atheismen und Humanismen wie über die Anbiederung mit einer immer schwerer übersehbaren Breite von philosophischen und wissenschaftstheoretischen Ansätzen zu einer solchen Unbestimmtheit gelangt, daß sie sich allenfalls noch als Gesellschaftsspiel für eine intellektuell gehobene Schicht von Christen anbietet,
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kaum jemandem aber, der ernsthaft nach Gott fragt, einen Weg zu weisen vermag.
Soll der gerade in diesem Punkt seine Identität suchende Mensch nicht einfach sich selbst überlassen werden - vielleicht führt ihn der Glücksfall bei seinem Streifzug durch die Museen zu dem einen oder anderen Stück, das ihn an bessere Tage erinnert und die gegenwärtige Haltlosigkeit wenigstens für eine Zeit vergessen macht -, dann bedarf es einer entschiedenen Anstrengung in anderer Richtung. Es geht heute nicht mehr primär um eine Anpassung des christlichen Denkens an die jeweils anstehenden Entwürfe von Theorie und Praxis. So sehr sich der Glaube je neu in die Sprache seiner Zeit zu übersetzen hat: Wo die Sinnentwürfe des Tages in einen uferlosen Pluralismus verlaufen, den kein tragender Gedanke mehr zusammenhält, da ist die Theologie statt zu weiterem "Aggiornamento" zur Besinnung aufgerufen, ob sie nicht im Rückgriff auf ihre eigene Tradition die Kraft zu einem Aufbruch des Denkens finde, das Ordnung in das Durcheinander zu bringen vermag.
Dabei kann es vorerst nicht um den ganzen Reichtum dieser Tradition gehen. Um diesen als ein auch heute noch tragfähiges Sinnganzes vorzustellen, dazu bedürfte es zunächst der Klärung von Grundbegriffen, ohne die jede Sinneinheit zerrinnt. Gerade hieran fehlt es aber, an der Kenntnis eines eindeutigen Alphabets von nicht verschwimmenden Buchstaben, mit deren Hilfe wir die Vielfalt des Vergangenen zu sichten vermöchten und schließlich auch wieder zum Bilden neuer, verständlicher Sätze fähig würden. Wo bieten sich uns, so müßte die
Frage zunächst lauten, im Reichtum des Überlieferten Hilfen, erst einmal wieder das richtige Fragen nach Gott zu erlernen? Wo finden sich brauchbare Texte, die im Laufe der Geschichte nicht abgegriffen sind, sondern noch genug unausgeschöpfte Spannkraft enthalten, uns weiterzufiühren?
Bei solchem Fragen sollten wir ein Büchlein nicht übersehen, das in diesen Tagen seinen 900. Geburtstag
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feiert: das "Proslogion" des Anselm von Canterbury. Es wurde im Laufe der Jahrhunderte zwar immer wieder aufgegriffen und erwogen, ohne daß es sich aber je abgegriffen hätte. Kaum einer, der nach Anselm zu Rang und Namen unter Philosophen und Theologen gekommen wäre, ist an diesem Werk vorübergegangen, und noch heute regt es die verschiedenartigsten Geister an, wie ein Blick auf die nicht abnehmende Sekundärliteratur beweist.
Das Erfreulichste an dieser Tatsache ist wohl, daß der Rückgriff auf Anselm in den seltensten Fällen aus bloßer Reverenz vor einer anerkannten oder gar zum Richtmaß erhobenen Autorität geschah. Im Gegensatz etwa zu Thomas von Aquin, an dem man lange Zeit auch aus anderen als sachlichen Gründen besser nicht vorbeiging, oder zu Hegel, dem allzuoft noch immer manch andere als philosophische Ehren erwiesen werden, nimmt Anselm eine etwas merkwürdige Stellung in der abendländischen Geistesgeschichte ein. Amtlicherseits hat man sich nie so recht getraut, diesen Heiligen, der auch als Erzbischof nicht sein Mönchsgewand abzulegen bereit war, laut als Theologen zu preisen. Bei näherem Hinsehen könnte solch schwer zu bändigender Geist trotz aller Rechtgläubigkeit manch ungestümen Wind in mühsam geordneten Blättern entfachen. Und Philosophen, die auf ihre Autonomie von allen geistlichen Banden pochen, werden Anselm, trotz allem Respekt vor der Schärfe seines Verstandes, vollends nie zur Ehre ihrer Altäre erheben. Denn nirgends läßt sich hier das Philosophische so vom Theologischen scheiden, wie sie es gern möchten. Wenn Anselms "ontologisches Argument" zu einem der meistdiskutierten Gedanken geworden ist, so wird man zugleich sagen dürfen, daß kaum ein anderer Gedanke so sehr außerhalb des Kontextes im Werk und Leben seines Autors berühmt und gerühmt wurde.
Wir wollen hier diese knappen Überlegungen noch einmal durchdenken, im Blick auf die besondere Präzision und Einfachheit, die sie in sich haben, zugleich aber auf
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den weiteren Zusammenhang im Werk Anselms, von dem her sich erst ihr eigentlicher Grund ausloten läßt. Dabei kann nur ein schmaler Ausschnitt aus der Fülle der Diskussion zur Sprache kommen, den dieser Text in der Geschichte der Philosophie und Theologie hervorgerufen hat. Für diese Auswahl war das Bemühen leitend, die wichtigsten Kontraste zu skizzieren, von denen sich der Grundgedanke Anselms abhebt, besonders aber einige der Linien, die in die gegenwärtige Problematik der Gottesfrage geführt haben.
Wenn es gelingt, die ungebrochene Kraft des Anselmschen Gottesbegriffs in der Auseinandersetzung mit diesen modernen Zugängen und Blockaden aufzuzeigen, dann wäre ein wichtiger Schritt gewonnen auf der beschriebenen Suche nach Identität im Fragen nach Gott.
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1 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Februar 1978, S. 10.
2 Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, hrsg. v. G. Lasson (Phil. Bibl.), Hamburg 1966, S. 3.