Bernhard Welte: Maurice Blondel. In:
Theologische Revue 51 (1955), Nr. 1, Spalte 5-12

Maurice Blondel

Von Bernhard Welte, Freiburg

Zum 1. Band der deutschen Ausgabe von Blondels "La pensée": "Das Denken". Die Genesis des Denkens und die Stufen seiner spontan aufsteigenden Bewegung. Übersetzt von Robert Scherer, Karl Alber Verlag, Freiburg & München, 1953, XXXII, 389 S. Lw. DM 24,80.


Mit diesem repräsentativen ersten Band einer vorgesehenen umfangreichen deutschen Blondelausgabe wird ein christlicher Denker bei uns eingeführt, der zu den merkwürdigsten und bedeutendsten und zugleich zu den schwerstzugänglichen der jüngsten Epoche gehört. Schon darum verdient dieses Buch alle Aufmerksamkeit.

I. Maurice Blondel war bis jetzt in Deutschland kaum mehr als dem Namen nach bekannt, und auch diese flüchtige Bekanntschaft war weithin überschattet durch das heute als gänzlich unzulänglich erkannte Urteil von Anton Gisler in seinem Modernismusbuch (Einsiedeln 1912). Auch in Frankreich steht Blondel nicht im Mittelpunkt der an der Oberfläche liegenden philosophischen und theologischen Diskussion. Aber die ausgezeichnete Einführung, die Robert Scherer dem Band voranstellt, belehrt uns darüber, welch wichtige und konkrete Rolle der Gedanke von Blondel gleichwohl heute dort spielt.


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Die lebhafte theologische Diskussion, die das Erscheinen von Blondels "Action" seiner Zeit, 1893, auslöste, ist weithin geklärter und sachlicher geworden auf beiden Seiten. Der Gedanke selber aber zeigte sich immer noch als lebendig und fruchtbar, vornehmlich in einem zwar nicht großen, aber qualitativ hervorragenden Kreis jüngerer Philosophen und Theologen. Um einiges dazu herauszugreifen: Henry Duméry hat 1948 eine sehr gute Arbeit über Blondel vorgelegt (1); von Henry Bouillard hat Robert Scherer vor kurzem die überaus interessante Studie über "Das Grundanliegen Maurice Blondels und die Theologie" übersetzt (2). Im Jahre 1949 wurde eine Gesellschaft der Freunde Maurice Blondels gegründet, welche ein interessantes Bulletin herausgibt. A. Hayen hat bei Nauwelaerts in Loewen eine wohl vollständige Blondel-


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Bibliographie erscheinen lassen (3). Robert Scherer erinnert in seiner Einleitung auch daran, daß der große Bremond Schüler Blondels war. Er weist auf die Korrespondenz Blondels mit Joseph Maréchal hin, die die einflußreiche Freundschaft Blondels zu dem Initiator des so wichtigen belgischen Neu-Thomismus bezeugt (4). Wir erfahren durch Scherer auch von Blondels Einfluß auf Louis Lavelle und Gabriel Marcel, so wie von seinen Anregungen, welche zur Begründung der berühmten Semaines sociales führten. Aus allem dem wird deutlich erkennbar, wie groß trotz dem zunächst vielleicht anderen Anschein der reale Einfluß und die Bedeutung Blondels ist.

Wenn man Blondels geschichtliche Stellung kurz bezeichnen will, kann man vielleicht sagen, daß er zu den großen schöpferischen und originellen Überwindern des 19. Jahrhunderts in eine neue Ära des Geistes hinein gehört. Blondels "Action" von 1893 war ein revolutionärer Durchbruch durch eine damals unbeweglich erscheinende Welt, welche nicht nur an der Sorbonne herrschte, und stellte ein ganz neues Ideal des Denkens auf. Blondel hat nach diesem ersten und berühmten Jugendwerk ungewöhnlich lange geschwiegen und erst viel später wieder größere Werke erscheinen lassen. Aber auch diese leben noch von der ersten Inspiration, wenn sie auch nun behutsamer formuliert und allseitiger abgewogen wird. 1934 erschienen bei Felix Alcan die beiden Bände "La pensée", deren erster hier nun in Übersetzung vorliegt. Weitere große Werke folgten diesem bald nach.

Die geistigen Quellen Blondels liegen sehr verzweigt; Wichtiges strömt ihm vor allem von Augustinus zu, und von den Neueren nährt sich sein Gedanke ständig aus dem Umgang mit Pascal und Leibniz. über die Vorläufer und die Quellen Blondels und die geistige Schule, der er entstammt, gibt Scherer in seiner Einführung genaue Auskunft.

II. Blondels Buch ist wohl weder im französischen noch im deutschen Text leicht zu lesen. Zu seinem Stil gehört ein eigentümliches, wortreiches Pathos, das bis an die Grenze der Weitschweifigkeit geht, und eine Art des Sprechens, welche mehr dem temperamentvollen und persönlichen Gespräch als der konzisen Aussage zugehört. Auch ist schon immer die Neigung Blondels aufgefallen, in jedem seiner einzelnen Sätze möglichst alle Gesichtspunkte unterzubringen, was die Durchsichtigkeit des Stils nicht fördert und zuweilen den Eindruck eines freilich schöpferischen Chaos gibt. Um so höher ist die Übersetzung Scherers zu rühmen, die aus einer vollständigen Beheimatung in dieser schwierigen Sprach- und Denkwelt Blondels auch bei den verwirrendsten und bewegtesten Seiten des Textes vollständig zuverlässig und genau zu sein vermag und gleichwohl ein ganz deutsches Buch in fließender Sprache vorlegt. Natürlich kann dessen Verständnis für den deutschen Leser nicht leichter sein, als es der französische Text für den französischen Leser ist. Aber jeder, der diesen deutschen Blondel aufschlägt, hat überall einen ganz zuverlässigen und zugleich einen sehr gangbaren Boden unter den Füßen.

Wer die Mühe und die Geduld nicht scheut, sich in den zunächst so merkwürdigen Text einzulesen und sich in das Temperament des Autors einzuschwingen, der entdeckt unter dem immer bewegten und oft auch beschwerenden Wortreichtum eine im Ganzen doch strenge und konsequente gedankliche Architektur von erstaunlicher Geschlossenheit. Dabei gehört es freilich wiederum zur Eigentümlichkeit Blondels, die eigentlich tragenden


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Gedanken dieses großartigen Aufbaus nicht förmlich auszuweisen, sondern sie vielfältig zu beleuchten und dann schließlich dem eigenen Denkvermögen des Lesers anheimzugeben, an den so nicht geringe Anforderungen gestellt werden. Die Spitze seiner Gedanken drängt er immer wieder in Formeln von knapper und brillanter Fassung zusammen, welche in einem merkwürdigen Gegensatz stehen zu dem lebhaften und gar nicht knappen Getriebe von Erwägungen, aus denen sie sich erheben. Diese Formeln sind auch am schwersten zu übersetzen und nie ohne persönlich Deutung. Bei ihnen wäre ich darum am ehesten geneigt, bisweilen eine andere als die vorgeschlagene Übersetzung zu erwägen.

III. Die Leidenschaft Blondels geht dahin, im Denken alle Einseitigkeit und Abstraktion zu überwinden, und das Denken selbst im lebendigen und konkreten Akte zu fassen und im vollständigen, nichts ausklammernden Zusammenhang seiner Momente. Er will, das Denken bedenkend, aus dein "Käfig der Begriffe" herauskommen ins Reale und Konkrete und spricht ausdrücklich seine denkerische Maxime aus: Niemals vom Konkreten abzugehen und ständig zugleich dem Singulären und dem Universalen treu zu bleiben (Exkurs V, S. 2 60).

In diesem Zusammenhang macht er die außerordentlich lehrreiche Unterscheidung zwischen dem Denken als Prospektion und dem Denken als Reflexion, d. h. zwischen dem direkten Leben des Geistes, dem Licht, in welchem die Unmittelbarkeit seiner Handlungen einhergeht, und andererseits der Reflexion, welche sich auf dieses Unmittelbare zurückwendet, in ihm den Ursprung seiner Kraft hat, es aber zugleich immer verändert. (Hierzu vor allem Exkurs XX, S. 325.) Hier ist eine deutliche Nachbarschaft zu den Gedanken, welche Martin Heidegger in "Sein und Zeit" über das Verstehen und die Erschlossenheit entwickelt.

Blondel sieht, daß, wenn das Geschehen des Denkens konkret und zugleich allseitig und universal betrachtet wird, es sich in einer konkreten Fülle von Implikaten erschließt. Das Denken umfaßt vieles, was zunächst in ihm verborgen ist. Blondel leitet daraus sein grundlegendes methodisches Prinzip ab, die Tatsache des Denkens (also gerade nicht den Begriff des Denkens) aufzufassen so, daß sich die Fülle dessen, was diese Tatsache einschließt an Momenten und Dynamismen, entfaltet und sichtbar auseinanderlegt. E s geht ihm darum, so den ganzen Reichtum der implizierten Momente zu erfassen, aber zugleich nichts zu isolieren, vielmehr alles in der konkreten "Gesamt-Verbundenheit" zu sehen, welche für Blondel eine durchaus universale ist. Dies ist der Sinn der berühmten Implikationsmethode, welche Blondel in der ausgiebigen Einleitung unseres Bandes und ergänzend in mehreren Exkursen entwickelt.

IV. Auf das Denken angewandt ergibt eine solche Explikation der Implikationen, wie sie Blondel versteht, ein wahrhaft universales und großartiges Bild.

a) Blondel fängt im ersten Teil seines Buches in der Weise von unten an, daß er zuerst und erstaunlicherweise vom materiellen Kosmos spricht. Er sieht schon diesen Kosmos (als Materiellen im Sinne der Naturwissenschaft begriffen) als ein Denken, ein Denken, das freilich noch nicht selbst denkt. Schon das Materielle zeigt ihm die Grundstruktur alles Denkens: die Dialektik zwischen einem Prinzip, das feststehende und statische Einheiten bildet, dem "noetischen", und einem diesem gegenüberstehenden "pneumatischen" Prinzip, kraft dessen jedes Einzelne über sich hinaus auf das Ganze dynamisch bezogen ist, es "ein- und ausatmet", also wirkt und Wirkungen empfängt und in


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diesem Spiele seinen Status immer überschreitend Neues gebiert. Das dialektische Wechselspiel des Noetischen und des Pneumatischen durchzieht in der Perspektive Blondels alle Gestalten und Stufen des Denkens, angefangen auf der untersten, und bringt sie in einen lebendigen Bewegungszusammenhang. So ist ihm schon der materielle Kosmos überall noetisch und pneumatisch bestimmt und darin ein Denken vor dem Denken. Darum kann er nachher auch ins wirkliche, erwachte Denken eingehen und diesem konsubstantial werden, indem er gedacht wird und gedacht als er selbst licht wird.

Dieses erste Kapitel über den "Kosmos als Denken" (so würde ich vielleicht pensée cosmique übersetzen; Scherer sagt: Das Kosmische im Denken), über die "natura ut ratio" gehört zu den eindrucksvollsten und überraschendsten des Buches. Es ruft dem deutschen Leser vor allem wohl die Erinnerung an Schellings Naturphilosophie wach (S. 39 ff. und Exkurs XIII, S. 277 ff.).

b) Vom Kosmos aber wird weiter gesagt, daß er eigentlich nicht ist, sondern wird. Er ist im Verständnis Blondels kein Block und keine Substanz, auch keine Sammlung, sondern bewegtes Werden, verstanden als ein von innen Gerichtetes, welches zu immer intensiverer Einheit in immer entfalteterer Vielfalt dynamisch fortstrebt. Dies heißt aber im Sinne Blondels: zu einem immer entwickelteren und ausdrücklicheren Denkcharakter. Die Welt im Ganzen ist so wesentlich werdendes oder sich suchendes Denken. Auf dem Gange dieses Aufstiegs des Denkens zu sich selbst liegt die Bildung des Organischen, des Gedankens als Pensèe organique et organisatrice (Scherer übersetzt: das Organische und Organisierende im Denken), und, auf höherer Stufe, des Psychischen, in welchem das bisher unbewußte Denken zu erwachen beginnt und das Noetische als innerlich in sich geeinte Aktualität erscheint, das Pneumatische aber als echte Spontaneität und Initiativkraft des Empfangens und Wirkens (Kap. 2 und 3, S. 59-88).

Indessen ist das Denken auf dieser Stufe seines Werdens immer noch gebannt in die geschlossene Immanenz des jeweiligen Artcharakters und seiner Bedürfnisse, und so ist die "ratio ut natura" noch nicht frei. Auf allen diesen Stufen ist das Denken noch wie ein Schläfer der erwachend doch immer wieder in die Nacht zurücksinkt" (S. 87).

c) Mit dem zweiten Teil erreicht Blondel den Durchbruch des Denkens zu sich selbst, zur pensèe pensante, dem denkenden Denken (in unserer Übersetzung: Denkakt im Denken). Das denkende Denken wird erreicht im wirklich denkenden Menschen. Es schließt, hier zu sich selbst gekommen, die bisher durchlaufenen Stufen seines Werdens nicht aus, sondern ein, es wird von ihnen getragen und ermöglicht, es erhebt sich aber zugleich dynamisch über sie und bildet, einmal erwacht, eine grundsätzlich neue Art noetischer und pneumatischer Entfaltung aus. Hier erst ist die "ratio ut ratio" erreicht, zunächst als ratio in subiecto.

Das denkende Denken ergreift zunächst die Mannigfaltigkeit der Objekte, zu deren Fassung es in Begriff und Sprache laufend noetische Einheiten entwickelt. Diese zeigen sich als unerläßliche Stützpunkte und "Zentralpunkte der Perspektive" (S. 148). Andererseits erweisen sich alle begrifflichen und sprachlichen Fixierungen als stets inadäquat gegenüber einer immer je größeren Mannigfaltigkeit und Bewegtheit des in den Begriffen zu Fassenden.

Im Weltganzen hat dieses begriffliche, objektive Denken nach Blondel vor allem den Sinn, im aktiven Ergreifen der Mannigfaltigkeit der Weltobjekte ständig


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höhere und dichtere noetische und pneumatische Einheitsbildungen der Weltdinge schöpferisch zu entwickeln, so daß ein Zuwachs an Intelligibilität von dieser im Menschen waltenden Spitze des Denkens aus sich über das Ganze des Daseins ergießt. Damit aber erhält der Denkcharakter des Ganzen einen Zuwachs (S. 150ff.).

Dieser Zuwachs an Intelligibilität bringt nun das Denken von der zunächst leitenden Frage nach den Objekten auf die Frage nach den Quellen dieses Zuwachses und damit nach dem Subjekt des Denkens. Das Denken erreicht im Vollzuge seine eigene Subjektivität und wird so subjektives Denken (2. Kap. S. 155ff.).

In solchem Denken als Subjekt scheint sich zunächst der immer gesuchte Sinn des Denkens überhaupt zu erfüllen. Im Subjekt des Denkens ist nach Blondel "die Einheit alles Seienden, gefaßt in der Einheit eines Bewußtseins".

Indessen erweist sich sofort, daß auch das Denken als Subjekt sich nicht in sich beruhigen und sich für wirklich erfüllt nehmen kann. Denn unaufhörlich ist das Subjekt dem Denken gegenüber, das sich in ihm zu fassen sucht, das Unfaßbare, Fließende, aller Fixierung entgehende und alle gedankliche Fassung immer wieder als bloße nützliche Fiktion Entlarvende. Das Denken hat allen Anlaß, auch über sich selbst als Subjekt wieder hinauszugehen.

d) So erreicht schließlich das "denkende Denken' als Subjekt ein Denken. weiches über aller Labilität und Unfaßbarkeit des Subjektiven liegt. Es erscheinen inmitten des subjektiven Ganges des Denkens Prinzipien, die von Subjektivität nichts mehr an sich haben. Es erscheint die Macht der Wahrheit selbst und damit eine Region, die nicht vom Subjekt gemacht und auch nicht bloß Eigenschaft oder Funktion von Objekten ist, eine Macht also, die sich als tiefer und höher zugleich erweist gegenüber allem bloß Subjektiven oder bloß Objektiven. Es erscheint die reine Ratio ut Ratio, deren Hervortritt alle bisherigen Stufen des Denkens zur Voraussetzung hat und die, einmal hervorgetreten, alle diese Stufen wiederum zugleich umfaßt und zugleich überschreitet. Hier sieht Blondel, daß ins subjektive Denken ein Denken hereinreicht, welches als "Wahrheit selbst" transzendente Wirklichkeit ist, noesis noeseos, und sich im Grunde als das lebendige Licht Gottes enthüllt (3. Kapitel, S. 177 ff., dazu mehrere Exkurse, vor allem Exkurs 30, S. 369 ff.).

In diesem Zusammenhang entwickelt er eine überaus interessante Theorie des philosophischen Gottesbewußtseins und der Gottesbeweise. Blondel unterscheidet zwischen der im subjektiven (gleich menschlichen) Denken immer schon lebendigen und real implizierten Gegenwart des göttlichen Lichtes einerseits, und der reflektierten Erfassung dieser Gegenwart in Beweis und Begriff. Die reflektierte Erfassung ist für ihn weder der schlechthinnige Anfang des Gottesbewußtseins, noch dessen vollendete Gestalt. Sie bezieht von der ersten, vorreflektierten Gegenwart Gottes im Menschen Anfang und ganze Kraft, ist aber als reflektierte unerläßlich, da das Leben der Fassung bedarf, um nicht ins Undeutliche und schließlich Unsichtbare zu verschwimmen.

e) Aber auch in dem in solcher Reflexion höchst erreichbaren Gottesbewußtsein kann das Denken als Menschliches nicht ruhen. Weder kommen die möglichen logischen Begriffe mit der lebendigen Implikation Gottes im menschlichen Leben ganz überein, noch kommen die lebendigen Aspirationen zum Höchsten je zu einem wirklich ruhenden Ende im Erfassen Gottes. So bleibt am Ende das große Lieht großes Dunkel. Und daraus folgt


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im Sinne Blondels für das menschliche Denken, wie es zum Licht seiner ersten über ihm leuchtenden Quelle aufblickt, die Notwendigkeit einer Option angesichts des nicht schwindenden Dunkels. Das höchste Licht leuchtet über dem Menschen und ruft ihn, aber es zwingt nicht. Und so gewinnt das höchste menschliche Denken schließlich eine ganz neue Gestalt, welche sich in Freiheit und Entscheidung und nicht mehr in einem reinen Raisonnement vollzieht.

Mit dieser letzten Wendung werden die entscheidendsten und erregendsten Punkte der christlichen Religionsphilosophie Blondels berührt und in den Zusammenhang seines Gesamtaufbaus gerückt. Aber ihre eigentliche Ausführung bleibt dem zweiten Bande vorbehalte n.

Wir stehen am Ende vor einer Gesamtdeutung des Daseinsgeheimnisses, dessen Größe niemand verkennen wird. Blondel faßt es einmal, auf das Ganze blickend, in dein Satz, zusammen, der für ihn das Ganze aussagt: Denken ist das, was zugleich alles ist und zugleich es selbst (Exkurs, 2, S. 244). Wenn man nicht so sehr auf die Art der Ausführung im Einzelnen als auf die gedankliche Grundabsicht und die tragende Struktur dieser Daseinsdeutung blickt, dann darf man sagen. daß seit Hegels Tagen kaum mehr eine so große Konzeption des Ganzen gewagt worden ist.

V. Gewiß kann und wird man diesem Ganzen gegenüber, wie es hier entworfen ist, auf Züge aufmerksam werden, die befremden können. Es kann angesichts des Reichtums der angerührten Fragen hier nur auf weniges davon hingewiesen werden.

Merkwürdig ist an Blondel, vor allem von den Gesichtspunkten des deutschen philosophischen Denkens her, daß das Weltbild der Wissenschaft, vor allem der Naturwissenschaft, mit solcher Unbefangenheit zum Ausgangspunkt des Gedankens wird, und daß gelegentlich auch Begründungen für philosophische Gedanken gesucht werden, die einzelwissenschaftlicher, etwa psychologischer oder linguistischer Art sind. Zum Teil wird dies damit zusammenhängen, daß Blondel die Weltaspekte und Denkimpulse der Zeit um die Jahrhundertwende in nicht wenigen Zügen doch mitgenommen hat, auch in seinen späteren Büchern. Auch muß berücksichtigt werden, daß die französische Tradition in diesen Dingen in manchem anders ist als die deutsche.

Mit diesem Umstand hängt ein anderer zusammen, der zugleich in größere philosophiegeschichtliche Dimensionen führt. Blondels ganzes Denken ist einer der großen Versuche, welche die neuere Zeit hervorgebracht hat,


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den Descartes'schen Ansatz zu überwinden, das durch ihn Getrennte wieder zusammenzubringen und das Abstrakte wieder mit konkretem Leben zu erfüllen. Aber gleichwohl wird dem aufmerksamen Leser auffallen, daß gerade im Zuge dieser wesentlichen philosophischen Auseinandersetzung der Descartes'sche Ansatz doch in größerem Umfang übernommen worden ist und nachwirkt. Es macht sich durchaus die Trennung zwischen der res cogitans und der res extensa und der ihr entsprechende Stil des Denkens bemerkbar. Blondel hat die große Wendung des philosophischen Denkens, die bei uns wesentlich durch Husserl inauguriert worden ist, nicht oder doch ganz anders mitgemacht als die deutsche Philosophie einschließlich des neueren deutschen Thomismus. Von daher muß auch Blondels sicherlich nicht adäquate Beurteilung der Phänomenologie (etwa S. 233 ff.) geschichtlich verstanden werden,. Blondel hat an, die Stelle jener Wendung etwas Eigenes von anderer Art gesetzt.

Im einzelnen müßte und könnte noch vieles bemerkt und in einer kritischen philosophischen Auseinandersetzung bedacht werden. Dieses kann hier nicht geschehen. Wie es aber auch im einzelnen stehen mag, so bleibt Blondels Gedanke doch von groß-er Bedeutsamkeit und Aktualität. Blondel ist bleibend wichtig durch seine energische Hinwendung in den Horizont des Konkreten, durch die Großartigkeit der sich daraus entwickelnden konkreten Spiritualität, in der ihm das gesamte Dasein deutbar wird, und schließlich und vollends durch die Elemente einer spezifisch christlichen Religionsphilosophie, welche er daraus entwickelt. Blondels religionsphilosophische Gedanken harren bis jetzt noch einer abschließenden Deutung. Aber sie haben. sich schon so sehr als beunruhigend und befruchtend erwiesen, daß wir schon um dessentwillen gehalten sind, die Stimme Blondels sorgfältig zu vernehmen und vielleicht geduldiger zu bedenken, als es bis jetzt geschehen ist und auch als es ihm vielleicht selbst gegeben war. So müssen wir mit Spannung auf die weiteren Bände des deutschen Blondel warfen, die uns Scherer in Aussicht stellt.


In dem technisch sonst vorzüglich gearbeiteten Band sind einige wenige sinnstörende Druckfehler hängengeblieben. In Kapitel 3 des ersten Teils, auf S. 76ff. sind laufend die Worte physisch und psychisch durcheinander geraten. Im Inhaltsverzeichnis auf Seite VII, beim Exkurs 25, ist in ähnlicher Weise das Metapsychische zur Metaphysik geworden. Auf Seite VI des Inhaltsverzeichnisses gehören die Worte "Schluß und Übergang" noch zum 3. Teil, mit den darauf folgenden Worten aber beginnt etwas ganz Neues, das vo r allem Vorausgehenden abzusetzen ist. im vorliegenden Satz verschleiert sich dies.


[Anmerkungen]

1 Die beste Arbeit über die alte "Action": "La philosophie de l'action, Essai sur l'intellectualisme blondelien", Paris 1948.[zurück zum Text]

2 Erschienen in: Symposion, Bd. 3, Freiburg 1952. Die französische Ausgabe trägt den Titel: L'intention fundamentale de Maurice Blondel et la thèologie, erschienen in Recherches de Science Religieuse 36, juillet-août-septembre 1949.[zurück zum Text]

3 A. Hayen, Bibliographie Blondélienne, 1888-1951. Paris 1953.[zurück zum Text]

4 Zum Teil veröffentlicht in: Mélanges Joseph Maréchal; Paris 1950, 1. Bd., S. 338 ff.[zurück zum Text]

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